Stimmen zu Kirchner

»Manche der Kirchner’schen Compositionen werden selbst dem gereiften Spieler erst recht verständlich, wachsen uns erst recht an’s Herz, wenn wir sie von ihm selbst vortragen hören. Denn wie Kirchner in seinen Werken ein Tondichter von Gottes Gnaden, so ist er ein Poet, der seines Gleichen sucht, am Clavier. Was technisches Können, Fingerfertigkeit, Schliff und Glanz betrifft, mögen ihn freilich viele unserer modernen Pianisten übertreffen. In der Kunst des Anschlags, der Klangschattirung, in der Fähigkeit, die Tasten des spröden Instrumentes zu klingenden und singenden Stimmen zu machen, wüssten wir auch heute kaum einen, der ihm überlegen wäre. Unter seinen Händen verschwindet denn auch vollständig, was uns in seinen Compositionen hin und wieder schroff, herbdissonirend, harmonisch gesucht vorkömmt. Die Ueberleitungen, die Verbindungen scheinbar weit hergeholter Accorde ergeben sich wie von selbst. Mit Zaubergewalt zieht er den Hörer in seinen Stimmungskreis und wenn der letzte Accord verklingt, beschleicht uns ein Gefühl, als hätte uns ein seliger oder auch süss schmerzlicher Traum umfangen.«
Arnold Niggli, Theodor Kirchner. Ein biographisch kritischer Essay, Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt, 27, 1887, S. 99.

»Von Wiederholungen, stereotypen Ausdrucksformen, wie sie nicht blos den meisten Neueren, sondern selbst manchen unserer Classiker anhaftet, findet man bei Kirchner so gut wir nichts. Aehnlich wie etwa Chopin ist er immer neu, unerschöpflich an geistreichen Wendungen, an Motiven voll bestrickenden Gesanges, an Grazie und Humor. Letzterer geht dem melancholischen Polen bekanntlich völlig ab, während ihn Kirchner in ähnlichem Mass besitzt wie Robert Schumann. Dabei zeigt unser Künstler ein ausserordentliches Feingefühl und eine seltene Erfindungskraft für harmonische Combinationen; scheinbar entlegenste Klänge bringt er auf geniale Weise mit einander in Beziehung und erreicht dadurch oft zauberische Wirkungen. In der Kunst der Farbenmischung, des stimmungsvollen Helldunkels übertrifft ihn keiner, selbst Chopin nicht, dessen Meisterschaft auf diesem Gebiet längst unbestritten ist, weil ein pianistisches Concertprogramm ohne Chopin‘sche Werke heutzutage kaum mehr gedacht werden kann, während es keinem Virtuosen einfällt, Kirchner zu spielen. – Die Form erscheint bei unserem Künstler stets auf‘s Sorgsamste durchgebildet, von tadelloser Geschlossenheit, nie sich ungebührlich vordrängend, sondern bis zur letzten Note erfüllt von geistigem Gehalt.« Arnold Niggli, Theodor Kirchner. Ein biographisch kritischer Essay, Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt, 27, 1887, S. 67

»Alles zusammenfassend, haben wir in Theodor Kirchner eine bedeutende künstlerische Erscheinung zu verehren, die ihren Platz in der Musikgeschichte der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts behaupten wird. In dem weitläufigen Gebäude ihrer Pensionäre wird sie ihm keines der Prunkgemächer, dagegen etwas abseits von den ganz grossen Herrschaften ein trauliches, behagliches Turmstübchen mit der Aussicht auf flüsternde Buchen und Eichen, auf ein leise bewegtes, schimmerndes Gewässer und auf in der Ferne verdämmernde Hügellinien anweisen. Es sind nicht mehr allzu viele, die den Weg zu ihm finden; aber wer die Mühe nicht scheut, bei ihm einzudringen, der wird belohnt durch allerhand Herrlichkeiten und Heimlichkeiten.«
Adolf Steiner, Nachruf auf Theodor Kirchner, Neue Zürcher Zeitung vom 24. September 1903.

»Kirchner ist der klassische Vertreter der nachschumannschen Klavierperiode geworden. Kein zweiter hat die Lieblingsform dieser Epoche so ausschliesslich gepflegt wie Kirchner, und nur wenige so glücklich wie er. Die Geschichte der musikalischen Miniaturen wird den Namen Theodor Kirchners jederzeit in grossen Lettern fortführen müssen. [...] Kaum ein zweiter hat in sich so viele Elemente von Schumanns Natur vereinigt als Kirchner, aber alle in weiblicher Flexion; selbst der Humor hat bei dem jungen Kirchner etwas Weiches. Mit den zunehmenden Jahren nimmt er aber mehr und mehr einen Teil schweren Ernstes hinzu, in die zärtlichsten und anmutigsten Schilderungen spielt ihm ungesucht ein Schatten, eine tiefsinnige und trübsinnige Figur hinein, und in dieser Mischung nehmen seine spätern Klavierwerke zuweilen etwas von Brahmsscher Physiognomie an.«
Hermann Kretzschmar, Die Klaviermusik seit Robert Schumann, in: Gesammelte Aufsätze über Musik, Leipzig 1910, S. 111-112.

»Kirchner habe ich noch gesprochen, seiner Zeit, der merkwürdigerweise recht imponierend wirkte.«
Ferruccio Busoni in einem Brief an Hans Huber vom 17. Februar 1916, in: Briefe Busonis an Hans Huber, hrsg. von Edgar Refardt, 127. Neujahresblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, 1939.

»Es schwebte ein merkwürdiger Unstern über dem Leben und Schaffen Theodor Kirchners. Seine Musik, in einer Zeit der Kämpfe um Wagner und Liszt, aber auch der Kanonisierung Schumanns und Brahms’, konnte mit keinen Produktionen aufwarten, die mit grossgearteten Würfen wie den Etudes Symphoniques, der Cdur Phantasie, den Variations sérieuses und den Paganinivariationen in eine Reihe gesetzt zu werden das Recht hatten; es gibt auch keine Klaviersonate oder ein Klavierkonzert von ihm. Daher konnten selbst die Breitwilligsten unter seinen Förderern wenig dazu beitragen, ihn dem grossen Publikum bekannt zu machen und zu erhalten. [...] Man legte den Fall Kirchner mit der Note Epigone ad acta.«
Reinhold Sietz, Theodor Kirchner. Ein Klaviermeister der deutschen Romantik, Regensburg 1971, S. 143.

»Es hat den Anschein, als seien die Klavierstücke Kirchners leicht ausführbar, weil ihr Notenbild fern von Brillanz und Virtuosität bleibt. Der durchsichtige Klaviersatz Kirchners verlangt jedoch vom Interpreten hoch entwickelte Musikalität und subtile Anschlagskunst. Weiter werden vom Spieler sinngemässe Phrasierungen, dynamische Abstufungen in den einzelnen Stimmen, rhythmische Festigkeit und die Belebung der Mittelstimmen verlangt.«
Kyung-Sun Lee, Stilistische Untersuchungen am Klavierwerk Theodor Kirchners, Aachen 1998, S. 276.

»Trotz seiner stets individuellen und originellen Musiksprache ist Theodor Kirchner in der Musikgeschichte kaum über den Rang eines Schumann-Epigonen hinausgekommen. Der Hauptgrund dafür liegt sicherlich zum Grossteil darin, dass Kirchner seine durchaus eigenständigen Klavierkompositionen an Schumanns Poetik anlehnte, statt eine eigene genuine Poetik für seine Kompositionen zu entwickeln. Dieser Aspekt ist nur für die Rezeption – jedoch nicht für die Qualität – von Kirchners Klavierkompositionen von Relevanz.«
Eva-Maria von Adam-Schmidmeier, Das Poetische als zyklisches Prinzip. Studien zum Klaviermusikzyklus im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 292.

»Theodor Kirchner bezaubert und verführt, er will mit seiner Musik nicht – wie andere Komponisten seiner Zeit – bezwingen. Und wenn alles im Ganzen unspektakulär wirkt, so können einzelne Takte, Mischharmonien, gewagte Kontrapunkte, epigrammatische Verkürzungen und die Technik des Dekonstruierens durchaus spektakulär sein und auf spätere Entwicklungen hinweisen: auf den Impressionismus und, man glaubt es kaum, auf das Werk von Anton Webern.«
Beat Schönegg

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