Variationen op. 85


Die Grundstimmung der Variationen op. 85 (1888) ist zuerst unproblematisch. Das Werk versetzt uns tief in die deutsche Romantik. Aber was beschaulich, fast gemütlich beginnt, offenbart nach und nach eine andere, zerrissene Seite. Konflikte scheinen auf und werden ausgetragen. Am Schluss mündet die Musik in ausgelassenen Jubel.

Das choralartige Thema (Andante) in E-Dur stammt aus Kirchners Werk Gavotten, Menuetten und Lyrische Stücke für Klavier op. 64 (1883), wo es, betitelt mit Ein frommes Lied, das Schlussstück bildet. Der melodische Einfall ist bezaubernd, die Harmonik schlicht. Für die Variationen hat Kirchner die Melodie abgerundet und zarte kontrapunktische Fäden hineingesponnen. Der Mittelteil moduliert nach G-Dur und führt, mit sonoren Bässen instrumentiert, zurück zur Dominante. Die AA-BA’-Form (zweimal 16 Takte, je zerfallend in 8+8) bildet das formale Gerüst für alle weiteren Variationen, die diesen Rahmen von 32 Takten meistens bewahren.

Die dicht gewobene erste Variation (Tranquillo) vermittelt Ruhe und Geborgenheit: Es ist die Nachtmusik einer schlafenden Stadt. Einen morgendlichen Aufschwung nimmt die zweite Variation (Un poco mosso): Die Sonne geht auf, Fanfaren ertönen, Pläne für den Tag werden gefasst. Faszinierend ist, wie sich Sechzehntel- und Triolenfiguren polyrhythmisch verwickeln. Die gegensätzliche dritte Variation (Meno mosso) ist unwillig und grimmig. Die eben noch aufmunternden Fanfaren werden zu bedrohlichen Mahnrufen (im Sekund- und Tritonusabstand). Die vierte Variation (Dolce e tranquillo) wirkt wie eine Erinnerung an gute Zeiten, die schwärmerische Lyrik und die zarten Farben beglücken. In starkem Gegensatz dazu steht die fünfte Variation (Poco animato) mit ihrem scherzenden Tändeln und irrlichternden Flackern. Einen Stimmungswechsel bringt die sechste Variation (Poco lento): Die Farben werden düster (e-Moll statt E-Dur), der Ton wird balladenhaft, gespenstische Schreckeffekte lassen erschaudern. Die siebte Variation (Tempo di thema), ebenfalls in e-Moll, führt in die Lyrik und Melodik des Themas zurück, fliesst breiter, bringt mehr und mehr Dramatik, steigert sich zu einem pathetischen Gefühlsausbruch, der am Ende kleinmütig in sich zusammensackt. Die ebenfalls in Moll stehende, polternde achte Variation (Allegro) wirft mit Motivfetzen um sich, die imitiert, gespiegelt, in kühne Harmonik gefasst werden. Akzente, Synkopen und Sforzati erzeugen einen wilden, ungelenkigen Tanz. Die neunte Variation (Lento) greift die ruhige Stimmung des Anfangs auf. Im Sechsachteltakt zeigt sich das Thema nochmals verwandelt, wieder in E-Dur, getaucht in behagliche Farben. Die letzte, zehnte Variation (Allegro ma non troppo) beginnt mit einem freudigen Aufschwung. Thematische Bezüge zur zweiten Variation sind hörbar, die Melodik ist aufsteigend optimistisch, imitierte Naturseptimen und echte Hornquinten geben das Gefühl, draussen in der Natur zu sein. Die frühlingshaften Farben leuchten, das Licht ist klar, alles wirkt frisch und verbreitet eine heitere Stimmung – fast wie bei einem Volksfest im Freien.


Die Variationen für zwei Claviere sind im Jahr 1888 bei Hofmeister in Leipzig herausgekommen. Kirchner, der 29 Jahre in Winterthur und in Zürich gewirkt hatte, wurde in der Schweiz mit grossem Interesse und Wohlwohlen wahrgenommen. So bespricht Arnold Niggli begeistert die Neuerscheinung dieses Werkes in der Zeitschrift »Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt« des Verlages Gebrüder Hug (Zürich, 29. Jahrgang, 1889, S. 125). Er schreibt: »Wenden wir uns zu den Variationen für 2 Claviere op. 85, so ist hier gleich das Andante-Thema aus E-Dur von einer so weihevollen Schönheit, einem so tiefgesättigten Wohllaut, dass es mit den ersten Takten unwillkürlich über den Hörer kömmt, wie beim Klang der Oster-Morgenglocken über die Seele Faust’s: »Als stürzte sich der Himmelsliebe Kuss/ Auf ihn herab in ernster Sabbatsstille.« Auf derselben Höhe stehen die zehn Variationen, in welchen Kirchner, was Entwicklung des thematischen Gehalts, Nüancirung der Grundstimmung, Reichthum der Figuration betrifft, ebenso Bewunderungswürdiges leistet wie bezüglich der Fülle und Schattirung des Klanges. Während die Veränderungen 2, 5 und 8 scherzosen Charakter an sich tragen, sich von neckischer Grazie bis zu phantastisch-kecker Laune steigern, waltet in Nr. 1 und 4 süsse Träumerei und vollends aufgelöst in himmlischen Gesang ist Nr. 9, wohl die Perle des Werkes und eines der schönsten Gebilde, das aus des Künstlers Händen hervorgegangen. Den Schluss der Variationen bildet ein ziemlich weit ausgeführter, marschartiger Satz, der übrigens bei aller Freiheit der Gestaltung das Bewusstsein des Themas stets lebendig erhält und zuletzt in freudigen Fanfaren stolz und glanzvoll ausklingt. Das Tongedicht verlangt zu entsprechender Wiedergabe zwei ebenso technisch gewandte wie feinfühlige, mit Kirchner’s Individualität vertraute Spieler, eignet sich übrigens in hohem Masse auch zum Concertvortrag und bildet in jeder Hinsicht ein würdiges Seitenstück zu Rob. Schumann’s herrlichen Variationen op. 46.«

Siehe auch die beiden Artikel in der SMZ von Beat Schönegg:
Weit mehr als biedermeierlich
Theodor Kirchners "Variationen op. 85 für zwei Claviere" verdienen eine Wiederentdeckung
in: Schweizer Musikzeitung SMZ, 14. Jahrgang, September 2011, S. 7-8
Fast vergessene Variationen
in: Schweizer Musikzeitung SMZ, 14. Jahrgang, September 2011, S. 32

Zur Quellenlage: Quellen zu op. 85 und Kirchners Handexemplar
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