Brahms, Haydnvariationen

Johannes Brahms: Variationen über ein Thema von Joseph Haydn, op. 56b

Johannes Brahms, der sich als Erbe der grossen europäischen Musiktradition verstanden hat, beschäftigte sich immer wieder mit den Werken der Vergangenheit, suchte und entdeckte unter ihren erstarrten Strukturen das Kreativ-Lebendige, das er als Quelle seines eigenen Komponierens erschloss – auch gegen die Widerstände seiner Zeit. Herausragendes Beispiel dafür sind die Variationen über ein Thema von Joseph Haydn, welche "alte" Kompositionstechniken wie die Passacaglia (Finale) oder den doppelten Kontrapunkt (z.B. in den Variationen 1, 4 und 5) mit neuem Leben füllen.

Das Thema: Johannes Brahms entdeckte das Thema 1870 im zweiten Satz von Haydns Feldpartie B-Dur; es war nur für Bläser gesetzt und mit "Chorale St. Antoni" überschrieben; heute vermutet man, dass es gar nicht von Haydn, sondern von einem seiner weniger bekannten Zeitgenossen stammt, vielleicht von seinem Schüler Ignaz Pleyel.

Die acht Variationen: Obwohl alle Variationen die Struktur und Taktzahl des Themas streng wahren, sind sie dennoch abwechslungsreich gestaltet. Sie verändern ihre innere Gestalt, ihren Charakter. Die erste Variation greift die Schlusswendung des Themas als glockenartiges Ostinato auf, um das sich zarte melodische Figuren ranken. Die zweite Variation ist temperamentvoll und energiegeladen. Daran schliessen sich in der dritten Variation serenadenhafte Wohlklänge an. Die vierte Variation in Moll hat eine traurige, lyrisch-verhangene Stimmung. Die fünfte Variation ist ein polyrhythmisch tänzelndes Scherzo, die sechste Variation, ebenfalls scherzoartig, gleicht einem wilden Ritt auf Teufels Rücken. Mit einem graziösen Tanz im historisierenden Siciliano-Rhythmus bezaubert die siebte Variation, und die achte Variation führt ein rätselhaftes kontrapunktisches Spiegelgefecht. Die Abfolge der einzelnen Variationen bringt Abwechslung und bewirkt eine geschickt angelegte Steigerung. Brahms wechselt zwischen Dur (Variation 1, 3, 5, 6 ,7) und Moll (Variation 2, 4, 8), zwischen geradem Takt (Variation 1, 2, 3, 6) und ungeradem Takt (Variation 4, 5, 7, 8).

Das Finale: Das Finale ist eine Passacaglia. Die Kunst bei Bassvariationen besteht darin, über das Starre der Bassreihe das Flüssige eines natürlichen harmonischen und melodischen Ablaufs zu suggerieren. Es ist ein Stehen im Gehen, ein Am-Ort-Treten. Solche Basslinien zwingen den Komponisten, Einfälle zu haben, er stösst auf Dinge, die ihm sonst nie eingefallen wären (wie beim Komponieren von Fugen). Brahms bringt die vom Thema abgeleitete Bassfigur siebzehn Mal, er macht also siebzehn Variationen, die er aber, um einer allzu kleingliedrigen Musik zu entkommen, unter dem Dach einer A-B-A-Grossform zusammenfasst. Schön ist, wie sich die thematischen Bestandteile metamorphosenartig verwandeln, wie sich eins aus dem anderen entwickelt, wie Brahms die Grenzen zwischen den einzelnen Variationen verwischt.

Als Schutzpatron hilft der heilige Antonius, wiederzufinden, was man verloren hat. Das siebzehnfache Durchlaufen des Themas könnte den Eindruck erwecken, als ob man einen verlegten Gegenstand an allen möglichen und unmöglichen Orten suche, alle Schubladen durchwühle, dabei Unerwartetes finde, um am Schluss das Verlorene wiederzufinden. Das Thema ging zuerst verloren und wird am Schluss wiedergefunden: Es hat einiges durchgemacht und triumphiert nun siegreich; nun fühlt es sich anders an, ist gewachsen und reifer.